CELLE: Vermisst Mandy Müller
Mandy, wo bist du und was ist mit dir passiert?
Das kleine Zimmer unter dem Dach betrete sie nur selten, sagt Sabine Müller (45). Rosentapeten an den Wänden, Stöckelschuhe im Regal, ein Schneewittchen aus Porzellan. Das Zimmer einer Prinzessin. Mandys Zimmer.
Mitten im Raum steht Sabine Müller wie in einer Ausstellung, nur nichts berühren, nichts verschieben, als würde sie sonst etwas zerstören: einen Zeitpunkt, eingefroren vor diesem verdammten Samstag im September 2008, als Mandy spurlos verschwand.
Draußen vor den Fenstern des Backsteinhauses in Nienburg an der Weser geht die Zeit weiter, hier drinnen steht sie still. Es ist, als wollte Sabine Müller in ihrem Haus die Zeit anhalten, die sie ohne ihre Tochter leben muss.
LEBEN?
„Mandy hat mein Leben mitgenommen“, sagt Sabine Müller. Sie weint jetzt leise. „Ohne Mandy ist alles leer. In mir ist alles abgestorben.“
Dann erzählt sie, wie Mandy verschwand. Eine Stunde lang wird sie ohne Pause reden, acht Zigaretten rauchen, Marlboro Light, an mancher zieht sie nur ein einziges Mal.
Sommer 2008. Mandy, gerade 18, hatte diesen Jungen kennengelernt: Angelino. Ein paar Wochen waren sie ein Paar, er durfte bei ihr übernachten, in ihrem Mädchenbett mit dem Erdbeerbezug. Am 13. September, einem Samstag, durfte sie zum ersten Mal bei ihm schlafen.
Von seinem Vater hatte Angelino ein kleines Haus bekommen, ein Liebesnest mit Anbaugarage, der Garten grenzt an einen Wald. Idyllisch, dachte Sabine Müller im September 2008. Ideal, um zu verschwinden, denkt sie heute: Um jemanden verschwinden zu lassen.
Sie hatten noch gefrühstückt, Mandy, ihre Eltern und ihr Bruder. Angelino holte sie ab, 9.30 Uhr in der Früh, drei-, viermal telefonierten Mutter und Tochter noch an diesem Tag, das letzte Mal abends um halb neun. „Bis Morgen, Mama. Schlaf gut.“
Am nächsten Morgen war Mandys Handy aus. Eine Stunde später rief Angelino an: „Mandy ist weg.“
Wie, fragte die Mutter, weg?
„Weg. Abgehauen.“
Sabine Müller geriet in Panik. Sie rief Freunde an, Verwandte, niemand hatte von Mandy gehört. Mit ihrem Mann fuhr sie zu Angelino. Gegen 23 Uhr hätten sie sich schlafen gelegt, erzählte der Junge. Als er am Morgen erwachte, sei Mandy weg gewesen.
„Das passt nicht zu meiner Tochter“, sagt Sabine Müller. „Sie war zuverlässig.“ Angelino sei ganz ruhig geblieben, gar nicht panisch, „ganz kalt irgendwie“. Sabine Müller rief die Polizei, gab eine Vermisstenanzeige auf.
Für das, was in den Monaten danach geschah, war es sicher nicht hilfreich, dass Mandy und Angelino schon einmal durchgebrannt waren, nach ein paar Tagen kamen sie zurück. Dass die Müllers Sinti sind, half sicher auch nicht. Ein Beamter, sagt die Mutter, habe sie rassistisch beleidigt: „Der hat uns nie ernst genommen.“ Die Müllers reichten Dienstaufsichtsbeschwerde ein.
Man sei tatsächlich davon ausgegangen, dass Mandy fortgelaufen sei, heißt es heute bei der Polizei. Von einer drohenden Zwangsheirat ist die Rede. Doch Mandys Handy blieb aus, auf ihrem Konto tat sich nichts. Es verging Zeit, die nicht mehr aufzuholen war.
Ein Jahr nach dem Verschwinden wertete die Polizei Mandys Handydaten aus. Zuletzt wurde ihr Telefon nachts um 3.30 Uhr geortet, in einer Funkzelle zehn Kilometer vom Haus entfernt. Angelinos Handy war zur gleichen Zeit in derselben Zelle.
Im Oktober 2009 nahm man Angelino vorläufig fest. Bluthunde schnüffelten durch sein Haus, Böden und Wände wurden aufgestemmt. Keine Spur von Mandy. Der Zeuge Angelino wurde zum Tatverdächtigen, und der hatte das Recht zu schweigen. Das tut er seitdem. Auch, als die BILD-Reporter ihn anrufen.
„Ja?“, fragt Angelino und reicht das Handy an seinen Vater weiter. „Es geht um Mandy“, sagt er halb laut, der Vater dann schroff: „Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an unseren Anwalt.“
Nach ein paar Tagen ließ die Polizei den Jungen laufen. Im November 2010 wurde das Verfahren eingestellt. „Ich kann verstehen, dass die Familie verärgert ist“, sagt der zuletzt ermittelnde Oberstaatsanwalt. „Es gibt halt keine Indizienkette, die stark genug ist.“
„Ich gebe die Hoffnung nicht auf“, sagt Mandys Mutter und drückt die achte Zigarette aus.
Vielleicht lebt ihre Tochter ja doch noch, und nur für den Fall, dass sie das hier liest, möchte die Mutter ihr etwas sagen: „Wir lieben dich, Mandy. Hab keine Angst, dich zu melden. Wir sind für dich da.“
Klingelt in dem Backsteinhaus in Nienburg das Telefon, wird der Anruf auf Sabine Müllers Handy umgeleitet. Nötig wäre das nicht, sie verlässt das Haus ohnehin fast nie. Was, wenn jemand käme und brächte den entscheidenden Tipp? Und gerade dann wäre sie nicht da? So viel hätte, so viel wäre. Konjunktiv essen Seele auf.„Mit Trauer ist das nicht zu vergleichen“, sagt Sabine Müller. „Wenn man trauert, dann weiß man, wo man hingeht. Wo soll ich denn hin? In mir ist nur noch Angst.“ Angst, dass es an der Haustür klingelt, und dann ist es vorbei. Die Geschichte ist aus, und sie hat kein Happy End.
Vermisste Mandy Müller |
Das kleine Zimmer unter dem Dach betrete sie nur selten, sagt Sabine Müller (45). Rosentapeten an den Wänden, Stöckelschuhe im Regal, ein Schneewittchen aus Porzellan. Das Zimmer einer Prinzessin. Mandys Zimmer.
Mitten im Raum steht Sabine Müller wie in einer Ausstellung, nur nichts berühren, nichts verschieben, als würde sie sonst etwas zerstören: einen Zeitpunkt, eingefroren vor diesem verdammten Samstag im September 2008, als Mandy spurlos verschwand.
Draußen vor den Fenstern des Backsteinhauses in Nienburg an der Weser geht die Zeit weiter, hier drinnen steht sie still. Es ist, als wollte Sabine Müller in ihrem Haus die Zeit anhalten, die sie ohne ihre Tochter leben muss.
LEBEN?
„Mandy hat mein Leben mitgenommen“, sagt Sabine Müller. Sie weint jetzt leise. „Ohne Mandy ist alles leer. In mir ist alles abgestorben.“
Dann erzählt sie, wie Mandy verschwand. Eine Stunde lang wird sie ohne Pause reden, acht Zigaretten rauchen, Marlboro Light, an mancher zieht sie nur ein einziges Mal.
Sommer 2008. Mandy, gerade 18, hatte diesen Jungen kennengelernt: Angelino. Ein paar Wochen waren sie ein Paar, er durfte bei ihr übernachten, in ihrem Mädchenbett mit dem Erdbeerbezug. Am 13. September, einem Samstag, durfte sie zum ersten Mal bei ihm schlafen.
Von seinem Vater hatte Angelino ein kleines Haus bekommen, ein Liebesnest mit Anbaugarage, der Garten grenzt an einen Wald. Idyllisch, dachte Sabine Müller im September 2008. Ideal, um zu verschwinden, denkt sie heute: Um jemanden verschwinden zu lassen.
Sie hatten noch gefrühstückt, Mandy, ihre Eltern und ihr Bruder. Angelino holte sie ab, 9.30 Uhr in der Früh, drei-, viermal telefonierten Mutter und Tochter noch an diesem Tag, das letzte Mal abends um halb neun. „Bis Morgen, Mama. Schlaf gut.“
Am nächsten Morgen war Mandys Handy aus. Eine Stunde später rief Angelino an: „Mandy ist weg.“
Wie, fragte die Mutter, weg?
„Weg. Abgehauen.“
Sabine Müller geriet in Panik. Sie rief Freunde an, Verwandte, niemand hatte von Mandy gehört. Mit ihrem Mann fuhr sie zu Angelino. Gegen 23 Uhr hätten sie sich schlafen gelegt, erzählte der Junge. Als er am Morgen erwachte, sei Mandy weg gewesen.
„Das passt nicht zu meiner Tochter“, sagt Sabine Müller. „Sie war zuverlässig.“ Angelino sei ganz ruhig geblieben, gar nicht panisch, „ganz kalt irgendwie“. Sabine Müller rief die Polizei, gab eine Vermisstenanzeige auf.
Für das, was in den Monaten danach geschah, war es sicher nicht hilfreich, dass Mandy und Angelino schon einmal durchgebrannt waren, nach ein paar Tagen kamen sie zurück. Dass die Müllers Sinti sind, half sicher auch nicht. Ein Beamter, sagt die Mutter, habe sie rassistisch beleidigt: „Der hat uns nie ernst genommen.“ Die Müllers reichten Dienstaufsichtsbeschwerde ein.
Man sei tatsächlich davon ausgegangen, dass Mandy fortgelaufen sei, heißt es heute bei der Polizei. Von einer drohenden Zwangsheirat ist die Rede. Doch Mandys Handy blieb aus, auf ihrem Konto tat sich nichts. Es verging Zeit, die nicht mehr aufzuholen war.
Ein Jahr nach dem Verschwinden wertete die Polizei Mandys Handydaten aus. Zuletzt wurde ihr Telefon nachts um 3.30 Uhr geortet, in einer Funkzelle zehn Kilometer vom Haus entfernt. Angelinos Handy war zur gleichen Zeit in derselben Zelle.
Im Oktober 2009 nahm man Angelino vorläufig fest. Bluthunde schnüffelten durch sein Haus, Böden und Wände wurden aufgestemmt. Keine Spur von Mandy. Der Zeuge Angelino wurde zum Tatverdächtigen, und der hatte das Recht zu schweigen. Das tut er seitdem. Auch, als die BILD-Reporter ihn anrufen.
„Ja?“, fragt Angelino und reicht das Handy an seinen Vater weiter. „Es geht um Mandy“, sagt er halb laut, der Vater dann schroff: „Wenn Sie Fragen haben, wenden Sie sich an unseren Anwalt.“
Nach ein paar Tagen ließ die Polizei den Jungen laufen. Im November 2010 wurde das Verfahren eingestellt. „Ich kann verstehen, dass die Familie verärgert ist“, sagt der zuletzt ermittelnde Oberstaatsanwalt. „Es gibt halt keine Indizienkette, die stark genug ist.“
„Ich gebe die Hoffnung nicht auf“, sagt Mandys Mutter und drückt die achte Zigarette aus.
Vielleicht lebt ihre Tochter ja doch noch, und nur für den Fall, dass sie das hier liest, möchte die Mutter ihr etwas sagen: „Wir lieben dich, Mandy. Hab keine Angst, dich zu melden. Wir sind für dich da.“
Klingelt in dem Backsteinhaus in Nienburg das Telefon, wird der Anruf auf Sabine Müllers Handy umgeleitet. Nötig wäre das nicht, sie verlässt das Haus ohnehin fast nie. Was, wenn jemand käme und brächte den entscheidenden Tipp? Und gerade dann wäre sie nicht da? So viel hätte, so viel wäre. Konjunktiv essen Seele auf.„Mit Trauer ist das nicht zu vergleichen“, sagt Sabine Müller. „Wenn man trauert, dann weiß man, wo man hingeht. Wo soll ich denn hin? In mir ist nur noch Angst.“ Angst, dass es an der Haustür klingelt, und dann ist es vorbei. Die Geschichte ist aus, und sie hat kein Happy End.
Hinweise an die Polizei in Nienburg, Celle oder an eine andere Dienststelle.
http://www.rtlregional.de/player.php?id=4317
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